Geschichte und Genres der Computerspiele – Teil 1
Den Vortrag zu Geschichte und Genres der Computerspiele hat der Games-Journalist Fabian Mauruschat am 28. Oktober 2015 bei der Auftakt-Veranstaltung von Spiel vs. Leben? – Wie Computerspiele Lebenswelten verändern gehalten. Zum Download der Folien geht es hier.
Geschichte der Videospiele
„Ich hab drei Schaden.“ – Dieses Zitat aus einem taz-Artikel zeigt recht deutlich, warum es in unser Gesellschaft einen großen Nachholbedarf im Bereich der digitalen Spiele gibt. Der Artikel-Autor schreibt, dass er seinen Sohn nicht versteht. Der spiele nämlich „Minecraft“ und verständige sich mit seinen Mitspielern über die erlittenen Schadenspunkte. Das hält der Vater für einen – außerhalb des Minecraft-Kontextes – dämlichen Satz. Dabei ist das im Grunde eine übliche Sprachform, nämlich die der Verkürzung oder Verknappung. Anstelle von „Meine Spielfigur hat drei Schadenspunkte beim Spiel Minecraft erlitten.“ sagt der Sohn „Ich hab drei Schaden.“ In ähnlichen Zusammenhängen sind solche Verkürzungen normal, kaum jemand würde den umgangssprachlichen Satz „Ich bin an der Bude, Kippen holen.“ korrigieren wollen und sagen: „Nein, das heißt: ‚Ich gehe zum Kiosk, um mir dort eine Packung Zigaretten zu kaufen.‘“ Games werden als so etwas nicht-alltägliches wahrgenommen, dass sie nur unter Schwierigkeiten in den normalen Erfahrungshorizont eingefügt werden können. Daraus folgt wiederum, der große, weiter oben angesprochene Nachholbedarf, der zu dieser kurzen Einführung geführt hat. Als ersten Schritt zum Zurechtfinden, für Eltern, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie an Jugendliche.
Videospiel? Computerspiel?
Wir benutzen die Begriffe „Computerspiel“ und „Videospiel“ mehr oder weniger synonym in unseren Publikationen. Per Definition sind Videospiele alle elektronischen und visuell basierten Spiele. Einfach gesagt: Wenn man etwas spielt, dabei etwas sieht und es ohne Strom nicht läuft, dann ist das ein Videospiel.
Der Begriff Computerspiel umfasst im Grunde alle digitalen Spiele, nicht nur PC-Spiele. Auch Smartphones oder Spielkonsolen sind schließlich Computer. Umgangssprachlich wird all das gerne unter dem Begriff Game zusammengefasst.
Die Anfänge – Spiele mit Kathodenbildschirme
Das interessante an der Geschichte der Computerspiele ist vielleicht, dass viele von uns sie selbst miterlebt haben. In unserer eigenen Lebenserinnerung können wir die Fortschritte der Spieletechnologie nachvollziehen und so frühe und aktuelle Spiele vergleichen. Das beginnt bei der Grafik, geht über die technischen Möglichkeiten und endet noch lange nicht beim Gameplay. Dabei liegen die Anfänge doch weiter zurück, als wir es wahrscheinlich annehmen. 1946 gab es schon das Cathode Ray Tube Amusement Device von Thomas T. Goldsmith Jr. und Estle Ray Mann. Auf dem Bildschirm eines Röhrenrechners konnte
man mit einem Joystick einen Lichtpunkt hin- und herbewegen. Die Entwickler legten bemalte Plastikfolien auf den Bildschirm, so konnte man durch das Navigieren zwischen aufgemalten Linien Punkte erlangen. Es wurde also eher mit dem Computer gespielt, als dass der Computer selbst ein Spielprogramm besaß. Die Bezeichnung erstes Videospiel ist
umstritten, weil je nach Definition eine Programmierung und ein Speicher mit dazu gehören.
Ein ähnliches Spielerlebnis wie beim Cathode Ray Tube Amusement Device gab es bei „Tennis for Two“ im Jahr 1958: Mit einem Analogcomputer und einem angeschlossenen Oszillographen (ein Bildschirm zur Spannungsmessung, ähnlich einem EKG-Monitor) spielte man eine sehr einfache Tennis-Simulation, bei der ein Lichtpunkt in einem Bogen über eine Linie bewegt wurde. Später war das heute noch bekannte „Pong“ ein Riesenerfolg, bei dem zwei Balken einen Pixel-Ball hin und her schlagen.
Die 1970er – Computerbasteleien und Penny Arcades
In den siebziger Jahren kamen die ersten Personalcomputer auf. Programmieren wurde nicht mehr nur beruflich sondern auch als Hobby ausgeübt. Viele Hobbyisten programmierten Spiele für den Heimcomputer, meistens Textadventures. Diese hatten keine Grafik, wie wir sie heute kennen sondern bestanden größtenteils aus Texten. Da stand dann ein Satz, der die Situation im Spiel beschrieb, etwa: „Du bist in einem Raum mit einer Tür, was machst du?“ Man konnte eigene Textkommandos eingeben, beispielsweise „Durchsuchen“ oder „Ich gehe durch die Tür.“ Wenn das Kommando vorher einprogrammiert worden war, dann zeigte das Spiel einen Text mit dem Ergebnis der Handlung. Ein Beispiel dafür ist „Adventure“ von 1975.
Mehr für das Auge boten die Video Arcades (in Deutschland Spielhallen), die in den Siebzigern weit verbreitet waren. Darin fanden sich fest verbaute Spielkonsolen (Arcade-Automaten), in die man Münzen werfen musste, um das Spiel zu spielen. Ein Beispiel dafür sind das schon erwähnte „Pong“ (1972) oder „Space Invaders“ (1978). Mit letzterem begann der Höhepunkt der Arcades, der bis weit in die Achtziger reichte.
Die 1980er – Heimkonsolen und PC-Spiele
In den Achtzigern waren die Arcades weit verbreitet, aber es begann auch der Siegeszug der PC-Spiele und der Heimkonsolen wie SG-1000, NES, Atari 7800 und vielen weiteren. Die Anbieter versuchten, möglichst viele Konkurrenten vom Markt zu drängen, ein erbitterter Konkurrenzkampf, für den der Name Konsolenkrieg geprägt wurde. Eine Folge davon soll der Video Game Crash von 1983 gewesen sein, bei dem der Markt vor allem in Nordamerika stark einbrach. Von mehreren Milliarden Dollar Umsatz im Jahr sanken die Zahlen auf 100 Millionen. Viele Firmen meldeten Konkurs an und unzählige angekündigte Spiele erschienen nie. Für den Crash gibt es verschiedene Erklärungen, wahrscheinlich waren mehrere Ursachen schuld. Zum Beispiel gab es nicht nur viele verschiedene Konsolen, es gab auch für jede Konsole ein eigenes Spielesortiment. Wer sich für eine Konsole entschied, hatte also nur eine beschränkte Zahl von Spielen zur Auswahl. Die Firmen standen unter Druck, möglichst schnell möglichst viele Spiele zu veröffentlichen. Darunter litt oft die Qualität. Ein bekanntes Beispiel dafür ist „E.T. the Extra-Terrestrial“ von 1982, das rechtzeitig zum Weihnachtsmarkt erscheinen sollte. Der Programmierer Howard Scott Warshaw hatte zugesagt, das Spiel zum Spielberg-Film in drei Wochen zu schreiben. Als es erschien, war es unausgereift und wurde massenweise zurückgegeben. Der Hersteller Atari hat die Spiele dann zu Tausenden in einer Mülldeponie in Nevada vergraben. Vor kurzem gab es Ausgrabungen dort, wie im Dokumentarfilm
„Atari: Game Over“ zu sehen ist.
Eine weitere Crash-Ursache war wahrscheinlich die Konkurrenz durch den Heimcomputer. Gerade für die Eltern war der Anreiz höher, einen Computer zu kaufen als eine Konsole. Die Konsole war schließlich ein reines Spielgerät, der Heimcomputer konnte – zumindest theoretisch – auch für Hausaufgaben benutzt werden.
Trotz Crash erholte sich Ende der Achtziger der Konsolenmarkt wieder. In diesem Jahrzehnt kam auch der Kopierschutz auf. Mit den ersten kopiergeschützten Programmen für Apple II, Atari 800 und Commodore 64 versuchten auch die ersten
Hacker, ihn zu umgehen. Es gab regelrechte Wettbewerbe zwischen Hackergruppen,
ein neues Spiel als erste zu cracken und zu verbreiten.
Die 1990er – Onlinegaming und 3D-Grafik
In den Neunzigern kamen die ersten 16-Bit-Konsolen auf den Markt.Davor waren 8-Bit-Prozessoren üblich. 16-Bit-Prozessoren konnten umfangreiche 2D-Grafikfähigkeiten und rudimentäre 3D-Darstellungen verarbeiten. Weitere Neuerungen waren mehr Speicherplatz und die Einführung der CD als Speichermedium.
Gleichzeitig gab es auch eine soziale Entwicklung: Die LAN-Partys. Jugendliche trafen sich, bringen ihre PCs mit und spielten über ein Local Area Network (LAN) miteinander. Eine eigenständige Gamerkultur kristallisierte sich aus der Hackerkultur heraus und wurde zum Massenphänomen. Die private LAN-Party wurde ergänzt durch große Treffen mit bis zu 7000 Teilnehmern. Es ist auch die Geburtsstunde des eSports. Mit den Clans verschiedener Spiele entstehen die Vorläufer der heute organisierte Ligen.
Im selben Zeitraum entwickelt sich das Internet zum Massenmedium. Ende der Neunziger werden die ersten Browserspiele wie „SOL 1995“ oder„Planetarion 2000“ veröffentlicht. Heute sind Browsergames, für die man keine eigene Spielesoftware installieren muss, weit verbreitet.
Die 2000er – MMORPGs und endlich Kulturgut
Der Trend zum Online-Gaming setzt sich im folgenden Jahrzehnt mit dem Erfolg der MMORPGs, (Massively multiplayer online role-playing games) fort. Das wohl bekannteste ist „World Of Warcraft“ (WOW), auch wenn es schon in den Neunzigern Vorläufer gab. 2004 waren weltweit eine Million Menschen online bei WOW registriert, 2012 erreichte das Spiel den bisherigen Höhepunkt mit 12 Millionen Abonnenten.
Ein weiteres Stichwort der 2000er ist die sogenannte „Online-Pflicht“. Viele Spiele laufen nur noch, wenn sie ständig mit dem Internet verbinden sind. Die Begründung der Hersteller lautet meistens, sie würden einen besseren Service bieten, beispielsweise, um jederzeit Updates (Patches) zu installieren. Die Online-Pflicht ist aber auch ein sehr effektiver Kopierschutz und wird von der Gamer-Community nicht sehr begeistert angenommen.
Im Jahr 2008 wird die Debatte, ob Computerspiele tatsächlich ein Kulturgut sein können, anscheinend beendet. Der Bundesverband der Entwickler von Computerspielen (Game) wird Mitglied im Deutschen Kulturrat.
Die 2010er – Mobile Gaming und Artgames
Mobile Games sind im aktuellen Jahrzehnt gerade omnipräsent. An sich ein alter Hut, den Game Boy gab es schon 1989. Heute ist fast jedes Smartphone von Werk aus schon mit mehreren Spiele-Apps ausgestattet. Laut Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware und App Annie Analyse-Institut waren 2015 im zweiten Quartal 75 Prozent aller in Deutschland veröffentlichten Apps Games1.
Eine weitere Veränderung in der Gamerszene ist ihre Heterogenisierung. Mittlerweile kann man davon ausgehen, dass alle Altersgruppen und Geschlechter spielen. Im September 2014 waren 52 Prozent aller Gamer in Großbritannien weiblich2. 2015 spielen 11 Prozent aller über 65-Jährigen (laut einer Studie im Auftrag des Digitalverbands Bitkom3), 81 Prozent der 14- bis 29-Jährigen. Games sind in allen Bevölkerungsschichten und Altersgruppen angekommen.
Typisch für die 2010er ist die starke Präsenz der Indiegames, also Spiele, die nicht von den großen Studios produziert werden. Die Urheber sind kleine Programmiererteams, die sich das nötige Kapital selbst organisieren oder über Crowdfunding finanzieren. Zwar gab es schon früher kleine unabhängige Studios oder Entwickler, aber mittlerweile machen sie den großen durchaus Konkurrenz. Gleichzeitig gibt es auch immer mehr Spiele, die nicht nur reine Unterhaltung sein wollen, sondern die ganz offen als Kunstobjekte gedacht sind. Es geht nicht mehr nur darum, upzuleveln, sondern Menschen sollen angeregt, irritiert, verstört oder anderweitig bewegt werden. Auch das gab es schon vorher, aber eher als museale Installation. Heute existiert ein kleiner Markt für Artgames, die in der Szene manchmal als Notgames bezeichnet werden. Weil sie in den Augen eingefleischter Gamer so wenige Kriterien von „Spiel“ erfüllen.
Was ist neu an neuen Medien?
Drei Merkmale unterscheiden Games von älteren Medien.
- Sie sind überall verfügbar: Man kann überall und jederzeit auf
jedem Handy, auf jedem Rechner mit Internetzugang spielen. - Eine hohe Immersion: Eine hochgradige Identifikation mit der
eigenen Spielfigur durch das Ansprechen mehrerer Sinne und die
detaillierte Weltschöpfung. - Weltensimulation: Diese Spielwelten sind so vielschichtig, dass
man alle ihre möglichen Aspekte erleben kann. So könnte man
theoretisch in einem Teil der Reihe „Grand Theft Auto“ den Mafia-
Plot verlassen und den Rest des Spiels damit verbringen, Pizza auszuliefern.
Neue Medienkritik – Stichwort Lesesucht
Mit dem Aufkommen neuer Medienformen geht meistens auch eine neue Form von Kritik einher. Stichwort „Lesesucht“: Ende des 18. Jahrhunderts gab es kritische Bedenken gegenüber dem Lesen. Man sprach von gefährlicher Literatur oder falscher Lektüre. So war das Lesen religiöser Texte wie der Bibel erwünscht, Lesen zum Zeitvertreib galt dagegen in
manchen Kreisen als bedenklich. Insbesondere, dass Frauen Romane gelesen haben schien unangemessen.
Ein bekanntes Beispiel ist das Wertherfieber. Wir reden ja noch heute vom Werther-Effekt – detaillierte Berichterstattung über Selbstmorde kann zu Nachahmungstaten führen. Die Diskussion gab es schon zu Goethes Zeiten. Damals lässt sich dieser Effekt natürlich schwer nachweisen, weil es keine oder zumindest keine verlässlichen Statistiken über Selbstmorde gab. Aber es ging nicht nur um die romantische Verklärung von Suizid, sondern das Werther-Fieber betraf sämtliche Aspekte des Lebens. So gab es zum Beispiel die Werther-Tracht: blauer Tuchfrack, gelbe Weste, Kniehosen aus gelbem Leder, Stulpenstiefel und runder, grauer Filzhut. Das erinnert nicht von ungefähr an Cosplay, bei dem sich Enthusiasten als Charaktere aus ihrem Lieblingsspiel verkleiden.
Ein weiteres Stichwort zu Kritik an neuen Medien ist die Fernsehsucht, die mit dem Aufkommen des aktuellen Leitmediums diagnostiziert wurde. So gibt zum Beispiel der US-amerikanische katholische Priester John McCloskey zwölf Tipps4, um die Familie vom Fernseher wieder zu Jesus zurück zu bringen. Dieser Text zeigt auch einen Umbruch, den Platz von TV als schlimmsten neuem Medium nehmen Videospiele ein: Denn Fernsehen, so Pater McCloskey, sei wie Marihuana, Videospiele jedoch wie Heroin. Kritik an neuen Medien ist also unausweichlich, das sollte bei der Rezeption immer beachtet werden.
Teil 2: Genres der Videospiele
- Quelle: https://www.biu-online.de/de/presse/newsroom/newsroom-detail/datum/2015/08/03/spiele-treiben-app-markt-an.html ↩
- Quelle: https://www.theguardian.com/commentisfree/2014/sep/18/52-percent-people-playing-games-women-industry-doesnt-know ↩
- https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Gaming-hat-sich-in-allen-Altersgruppen-etabliert.html ↩
- Quelle: https://www.catholicity.com/mccloskey/fernsehsucht.html ↩
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